Bewusste Entscheidung: Das Nachttischbuch – eine Nachdenk-Geschichte

2023-09-10T10:26:05+02:00Kategorien: Nachdenk-Geschichten|Tags: , |

Wie wir Grenzen ziehen und unseren Kopf zum Schweigen bringen

Triffst du oft eine bewusste Entscheidung oder schiebst du die Dinge eher vor dir her? Letzteres ist auf den ersten Blick einfacher, oder? Schließlich verschwinden die »offenen Baustellen« so aus dem Bewusstsein und geben (kurzzeitig) Ruhe. Das passt uns besonders gut in den Kram, wenn sie das Potenzial haben, unangenehme Situationen oder Gespräche mit sich zu bringen. Doch sobald wir uns am Abend gemütlich in die Federn kuscheln, kehren sie häufig mit Wucht zurück und werfen das Gedankenkarussell an. In der folgenden Nachdenk-Geschichte steht Lilly vor dem gleichen Problem – bis eine Bemerkung ihres Mannes Chris sie aufhorchen lässt.

Bewusste Entscheidung – Short-Story: Das Buch auf dem Nachttisch

Lilly fragt sich, warum sie ihr abendliches Leseritual plötzlich nicht mehr genießen kann. Hat das Manuskript ihres Bruders vielleicht etwas damit zu tun? Foto: Laura Chouette / unsplash

Das Buch auf dem Nachttisch

Lilly zupfte den Bund ihrer Pyjamahose zurecht, schloss die Badezimmertür hinter sich und stieg die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Das Holz unter ihren nackten Füßen gab bei jedem Schritt etwas nach, das wohlbekannte Knarzen der vorletzten Stufe signalisierte ihr, dass die Abendruhe kurz bevorstand. Lilly lächelte. Der vertraute Ton versetzte sie bereits in einen angenehmen Zustand der Entspannung, bevor sie das Bett überhaupt erreicht hatte. Sie hätte das Geräusch längst beseitigen können, doch war es inzwischen zu einem lieb gewonnenen Merkmal geworden, das sie nicht mehr missen wollte. Ebenso wenig wie ihre fest eingeplante Lesezeit, ehe sie das Licht endgültig löschte. Sie erleichterte ihr den Übergang von einem ereignisreichen Tag in eine ruhige Nacht und sorgte immer wieder aufs Neue für die willkommene Entschleunigung ihrer Gedanken.

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An diesem Abend freute sie sich besonders darauf, denn ihr Bruder Kai hatte sie am Nachmittag um einen Gefallen gebeten, den sie ihm gerne erfüllte. Neben seinem Hauptberuf als Teamleiter der örtlichen Stadtsparkasse verfasste er in seiner Freizeit seit einigen Jahren Kurzgeschichten. Lilly mochte seinen Schreibstil und konnte es kaum erwarten, gemütlich unter die Bettdecke gekuschelt in das Manuskript seines ersten ausführlichen Romans abzutauchen. Über den Inhalt hatte er ihr im Vorfeld nicht viel verraten, nur, dass es sich um Fantasy handelte. Normalerweise las sie querbeet durch alle Genres, doch mit diesem hatte sie sich bisher nicht näher beschäftigt – magische Welten hatten nie ihr Interesse geweckt. Umso neugieriger war Lilly nun, ob die Geschichte aus der Feder ihres Bruders das zu ändern vermochte. Sie nahm den gebundenen Probedruck zur Hand, klemmte ihre Leselampe daran fest und knipste die Deckenlampe über den am Kopfende angebrachten Schalter aus. Sie atmete tief ein – allein der Duft des frisch gedruckten Papiers gab ihr das heimelige Gefühl, zu Hause zu sein. Lilly begann zu lesen, schlug Seite für Seite um, doch bald wurden ihre Augenlider schwer. Damit das Buch nicht verblätterte, schob sie es aufgeklappt auf die Ablagefläche des Nachttischs. Trotz der Müdigkeit wollte die Entspannung sich nicht einstellen. In den Schlaf fand sie erst, als sie hörte, wie ihr Mann Chris leise den Raum betrat und kurz darauf neben ihr unter die Decke kroch.

Unruhige Nächte schlagen aufs Gemüt – da hilft auch der Morgenkaffee nicht mehr viel

Nach einer unruhigen Nacht fällt es doppelt schwer, eine bewusste Entscheidung zu treffen. Foto: David D. / pixabay

Am nächsten Morgen stand Lilly an der Kaffeemaschine, als sich zwei Arme von hinten um sie schlangen. »Hey Sonnenschein«, wisperte Chris ihr ins Ohr und drückte sie sanft an sich. »Gut geschlafen?«
­ Lilly drehte sich zu ihm herum. Ihr Mann runzelte die Stirn und sah sie prüfend an. »Alles in Ordnung? Du siehst müde aus.«
­ »Ich weiß nicht recht.« Lilly fuhr sich durch die ungekämmten Locken. »Irgendwie war die Nacht unruhig. Keine Ahnung, woran das gelegen hat. Vielleicht haben wir Vollmond?«
­ Chris legte die Hände auf ihre Schultern und schob sie behutsam in Richtung Esszimmertisch, bis sie auf einen der hell gepolsterten Holzstühle sank. »Kein Vollmond«, stellte er fest. »Ruh dich noch etwas aus, ich bringe dir den Kaffee gleich. Dein Tag wird sicher anstrengend genug.«
­ Lilly nickte dankbar. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr, während sie sich über die Augen rieb. Er hatte recht. Heute stand der Ausflug ihrer Kindergartengruppe in den Tierpark an, da war ihre Aufmerksamkeit gefragt und Schläfrigkeit definitiv fehl am Platz. »Starken Kaffee, bitte«, murmelte sie. »Sehr starken Kaffee.«

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Verdrängung, Schönrederei oder bewusste Entscheidung?

»Worum geht es in der Geschichte?«, wollte Chris am Abend wissen. Er setzte sich im Bett auf und beugte sich zu Lilly hinüber, um einen Blick auf das Cover des Buchs in ihrer Hand zu werfen.
­ »Es sind kurze Märchenerzählungen für Kinder«, erklärte Lilly bereitwillig. »Unsere Kita-Leiterin hat sie mir vorhin mitgegeben. Sie war total begeistert davon. Ich überlege, ob das vielleicht etwas für die Kleinen in meiner Gruppe ist. Im Moment sind sie irgendwie unruhig, es fällt ihnen noch schwerer als sonst, sich länger als eine Minute lang auf etwas zu konzentrieren.«
­ »Mmh«, brummte Chris. »Und sind sie gut?«
­ »Wer?«
­ »Die Geschichten.«
­ Lilly zuckte mit den Schultern. »Die ich bisher gesehen habe schon.« Sie klappte das Buch zu und ließ sich die Rückenlehne herunterrutschen, bis ihr Kopf das weiche Kissen erreichte. »Kann ich das Licht ausmachen?«, erkundigte sie sich.
­ Chris musterte seine Frau. »Was ist mit dem Roman von deinem Bruder?« Sein Kinn ruckte in Richtung Nachttisch, wo der Probedruck weiterhin aufgeschlagen dalag.
­ Lilly folgte seinem Blick. »Ach ja, der ist auch ganz gut«, sagte sie. »Kann ich jetzt ausmachen?«
­ »Was ist los mit dir, Lilly?«, hakte Chris nach. »Normalerweise liest du vor dem Schlafen mindestens eine Stunde.«
­ »Ich bin einfach müde, das ist alles.«
­ »Okay«, lenkte Chris schließlich wenig überzeugt ein. Er strich ihr über das Haar, legte sich langsam hin und betrachtete sie nachdenklich – bis das Licht erlosch.

Stoppen wir das Gedankenkarussell durch eine bewusste Entscheidung

Offene Fragen halten uns wach. Eine bewusste Entscheidung für oder gegen etwas schafft Abhilfe. Foto: Bruno van der Kraan / unsplash

Treffen wir eine bewusste Entscheidung, kommen unsere Gedanken zur Ruhe

Am nächsten Abend nahm Lilly das vertraute Knarzen der Treppenstufe nur am Rande wahr. Schon im Badezimmer hatte sie darüber nachgedacht, wie ihr tägliches Leseritual wohl dieses Mal verlaufen würde. Sie versuchte es mit ihrem beleuchteten E-Book-Reader. Darin hatte sie einen Gedichtband gespeichert, den sie bereits mehrmals gelesen hatte, der es jedoch meistens schaffte, ihren Kopf zum Schweigen zu bringen. Tatsächlich gelang es ihr, etwas abzuschalten, doch die Freude hielt keine zehn Minuten an. Entnervt schob sie den Reader weg und verschränkte die Arme vor der Brust. Was zur Hölle war hier los? Warum konnte sie ihre geliebte Lesestunde plötzlich nicht mehr genießen?
­ Chris sah von seinem Magazin auf. »Offene Bücher auf dem Nachttisch sind nicht gut«, bemerkte er.
­ »Bitte?« Lilly sah ihn fragend an. »Was meinst du damit?«
­ Chris schloss das Magazin, ließ es geräuschvoll auf den Parkettboden neben das Bett fallen und wandte sich seiner Frau zu. »Offene Bücher können uns das Leben ganz schön schwer machen.«
­ Lilly sah zu ihrem Nachttisch und dachte an ihren Bruder. »Es ist nur ein Buch«, sagte sie. »Ja, ich gebe zu, es packt mich nicht richtig. Aber das ist halb so wild. Dann fange ich halt erst mal ein anderes an.«
­ »Und? Entspannt dich das mehr?«
­ Lilly schüttelte den Kopf. »Momentan auch nicht.« Sie zögerte kurz, bevor sie fortfuhr. »Und du denkst ernsthaft, das liegt an einem aufgeschlagenen Buch?«
­ Chris rollte sich auf die Seite und stützte den Kopf auf seiner Handfläche ab. »Ja«, antwortete er. »Ich bin überzeugt davon, dass bei allen Fragen im Leben irgendwann der Moment kommt, in dem du entscheiden musst, ob du die nächste Seite eines Kapitels aufschlägst – oder eben nicht. Solange du diesen Entschluss nicht fasst, wird es wohl weiterhin jeden Abend auf dich warten.«

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Offene Vorgänge lösen sich nicht in Luft auf, sie kommen wie ein Echo immer wieder zu uns zurück

Manchmal stoppt unser Gedankenkarussell erst, wenn wir uns bewusst entscheiden, ob wir uns mit einem Thema aktiv weiterbeschäftigen oder das Buch zuklappen. Foto: Pexels / pixabay

Eine bewusste Entscheidung schließt offene Baustellen

Tatsächlich sind viele Menschen so gestrickt, dass offene Vorgänge sie nicht ruhen lassen – insbesondere, wenn diese unangenehme Züge aufweisen und voraussichtlich zu unliebsamen Gesprächen oder Handlungen führen. Wie bei Lilly, die sich einerseits nicht durch ein (für ihr Empfinden) uninteressantes Buch arbeiten wollte und andererseits beim Abbruch des Romans die Auseinandersetzung mit ihrem Bruder scheute. Solche Gewissenskonflikte betreffen nicht nur die großen Lebensentscheidungen, sondern summieren sich auch in der Menge an Kleinigkeiten. Bleibt eine Entscheidung also wie ein Buch aufgeschlagen auf dem Nachttisch liegen, wird sie sich wieder und wieder zurück in unsere Gedanken schleichen. Die Konzentration auf andere Sachen fällt uns schwerer, wir fühlen uns unwohl, vielleicht sogar getrieben, wissen aber selbst nicht genau, woran es liegt. Denn offene Baustellen nisten sich gerne häuslich in unserem Unterbewusstsein ein und outen sich dort als lästige Störenfriede – die sich oft nicht von alleine verdrücken.

Ob wir etwas fortsetzen oder es beenden und wie wir den Entschluss kommunizieren, ist natürlich typabhängig und eine Frage der eigenen Werte sowie des persönlichen Stils. Wichtig ist nur, dass wir die bewusste Entscheidung treffen. Möchten wir einen Weg weiterverfolgen, machen wir es und akzeptieren die daraus entstehenden Konsequenzen. Wollen wir das nicht, setzen wir einen Punkt und akzeptieren die daraus entstehenden Konsequenzen. Dies ist ein klarer und vor allen Dingen aktiver Beschluss. Verschieben wir ihn jedoch immer weiter in die Zukunft, verfolgt und bedrängt er uns in der Gegenwart.

Hast du auch ein offenes Buch auf deinem Nachttisch liegen, das dich wachhält? Dann stelle dir jetzt die Frage, ob du es weiterlesen oder zuklappen möchtest. Und keine Sorge: Ein geschlossenes Buch ist nicht automatisch fest verklebt. Wenn die Umstände sich ändern, kannst du es wieder öffnen und erneut zur Hand nehmen. Erinnerst du dich an meine Nachdenk-Geschichte »Das Geheimnis der weißen Leinwand«? Wir haben jeden Tag aufs Neue die Wahl. Es ist unsere Chance – nutzen wir sie.

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